Jenseits der Charts
Intermarket-Analyse als Werkzeug zur strategischen Orientierung im globalen Finanzsystem

An der Börse bewegen sich Märkte nie isoliert. Aktien, Anleihen, Rohstoffe und Währungen beeinflussen einander in einem komplexen Geflecht aus Kapitalströmen, Zinsen, Inflation und Erwartung. Wer diese Wechselwirkungen versteht, kann Trends früher erkennen, Risiken besser einschätzen und Strategien präziser steuern. Genau hier setzt die Intermarket-Analyse an – sie untersucht die Beziehungen zwischen Märkten und offenbart, wie sie sich gegenseitig antreiben oder bremsen.
1. Aktien und Anleihen – das Spiel der Zinsen
Zwischen Aktien und Anleihen besteht meist eine inverse Beziehung:
-
Steigen die Renditen von Staatsanleihen, fallen die Kurse – und oft auch die Aktienmärkte. Der Grund: steigende Zinsen verteuern Kredite und bremsen Wachstum.
-
Sinken die Zinsen, werden Investitionen attraktiver und Gewinne höher eingeschätzt – Aktien tendieren nach oben.
Beispiel:
Als 2023 die Renditen 10-jähriger US-Treasuries über die 4 %-Marke stiegen, reagierten Tech-Aktien mit deutlichen Kursverlusten. Die steigenden Zinsen zogen Kapital aus Wachstumswerten ab und in
festverzinsliche Anlagen um. Wer die Anleihemärkte beobachtete, sah die Korrektur im Aktienmarkt kommen.
2. Währungen und Rohstoffe – der $ als Schwerkraftzentrum
Rohstoffe werden in der Regel in US-Dollar gehandelt. Daher wirkt der Dollar wie ein Gravitationszentrum:
-
Fällt der Dollar, steigen meist die Rohstoffpreise – sie werden für Käufer anderer Währungen günstiger.
-
Steigt der Dollar, verlieren Öl, Gold und Kupfer tendenziell an Wert.
Beispiel:
Als der Dollarindex im Frühjahr 2024 nachgab, kletterte der Ölpreis auf über 90 US-Dollar pro Barrel. Für europäische und asiatische Käufer war Öl plötzlich günstiger, die Nachfrage zog an – eine
klassische Intermarket-Bewegung.
3. Rohstoffe und Anleihen – Inflation als Bindeglied
Rohstoffpreise sind ein Frühindikator für Inflation. Steigen sie stark, erwarten Investoren steigende Zinsen – Anleihen verlieren an Attraktivität.
-
Hohe Rohstoffpreise = Inflationsdruck = steigende Zinsen = fallende Anleihekurse.
-
Sinkende Rohstoffpreise = Entspannung = stabile oder steigende Anleihekurse.
Beispiel:
Die Rally der Industriemetalle 2021 war ein Warnsignal. Der CRB-Index sprang um mehr als 40 % an, Anleiherenditen folgten kurz darauf nach oben. Wer diese Verbindung erkannte, konnte steigende
Zinsen früh antizipieren.
4. Sektor-rotation – Kapital folgt dem Konjunktur-zyklus
Innerhalb des Aktienmarkts wandert Kapital zyklisch von Branche zu Branche.
-
Aufschwung: Technologie, Industrie, zyklischer Konsum.
-
Abschwung: Versorger, Basiskonsum, Gesundheitswesen.
Beispiel:
Als sich 2022 die Konjunktur abkühlte, verloren Halbleiter- und Cloud-Aktien an Dynamik. Gleichzeitig stiegen defensive Sektoren wie Nahrungsmittel oder Pharma. Wer Intermarket-Signale mit
relativer Stärke kombinierte, konnte früh umschichten.
5. Wandel der Korrelationen – wenn alte Muster brechen
Intermarket-Beziehungen sind nicht statisch. In Inflationsphasen oder geopolitischen Krisen verändern sich die Korrelationen.
-
2022 etwa fielen Aktien und Anleihen gleichzeitig, obwohl sie sonst gegenläufig verlaufen.
-
In solchen Phasen verliert die klassische Diversifikation an Wirkung – ein Hinweis, dass neue Kräfte wirken (Inflation, Lieferketten, Energiepreise).
Beispiel:
Viele Portfolios, die auf die alte Regel „Aktien rauf – Anleihen runter“ setzten, verzeichneten 2022 zweistellige Verluste. Erst mit dem Ende der Inflationswelle kehrte das historische Muster
langsam zurück.
Fazit
Intermarket-Analyse heißt, die Grenzen einzelner Märkte zu überschreiten und das Finanzgeschehen als Ganzes zu begreifen. Jede Anlageklasse ist Teil eines größeren Systems, dass durch Kapitalströme, Zinsen, Währungen und Rohstoffe geformt wird.
Wer diese Zusammenhänge versteht, erkennt Wendepunkte früher, liest Charts im Zusammenhang und entwickelt Strategien mit größerer Standfestigkeit.
Märkte sind kein Zufall, sie sind Spiegel kollektiver Entscheidungen. Wer ihre Wechselwirkungen versteht, erkennt in der Dynamik der Kurse die Logik ihrer Bewegung.