La scuola di Atene 2025
Wie KI die Ökonomie der Universitäten verändert

1. Ausgangslage
Der MOOC-Irrtum und die disruptive Kraft der KI
Der große Irrtum der MOOC-Welle¹ bestand darin, den Menschen mit seiner Trägheit, der begrenzten Frustrationstoleranz und der seltenen Freude am Denken zu unterschätzen. Nicht die Technologie, sondern die Psychologie verhinderte die Bildungsrevolution. Mit der Künstlichen Intelligenz (KI) kehrt sich das Verhältnis nun um. Die KI kompensiert Ungeduld, überdeckt schwache Sprachfertigkeiten, liefert Lösungen ohne tieferes Verständnis und verwandelt das Smartphone in einen allgegenwärtigen Ghostwriter.
Die Hochschulen geraten dadurch unter doppelten Druck. Viele schriftliche Prüfungen verlieren ihre Aussagekraft hinsichtlich der eigenen Denkleistung. Gleichzeitig erzwingen Sparzwänge eine Rationalisierung der Lehre. KI-gestützte Dozenten, automatische Korrekturen und adaptive Tutorensysteme gelten längst nicht mehr als ferne Vision, sondern als Instrumente akademischer Notwehr.
2. Akademische Schummelszenarien
Täuschungsmöglichkeiten durch KI-gestützte Hilfen
Schon heute ist sichtbar, wie Studierende die neuen Mittel einsetzen. Pflichtgemäß wird in der Eigenständigkeitserklärung angegeben, KI genutzt zu haben. Was noch als „menschlicher Anteil“ in solchen Arbeiten steckt, ist für den Lesenden kaum zu bewerten.
Hinzu kommt, dass KI-gestützte Hilfen unauffällig in den Arbeitsalltag eindringen. Lösungen erscheinen über KI-Brillen direkt über dem Aufgabenblatt. Mini-Ohrhörer verschwinden im Gehörgang.²
Damit wird der Appell an die studentische Redlichkeit zum bloßen Symbol. Warum zu Fuß gehen, wenn man die Brötchen mit dem Ferrari holen kann? Wer ehrlich bleibt, zahlt am Ende den Preis der Naivität.
3. Grenzen der Gegenmaßnahmen
Die Unzulänglichkeit von Kolloquien, Übungen und Appellen
Natürlich gibt es Ideen, gegenzusteuern: zusätzliche Kolloquien³, mündliche Zwischenprüfungen, handwerkliche Anteile wie Maschinen aufbauen, chemische Proben kochen, Frösche sezieren. Doch auch hier stellt sich die Frage: Handelt es sich dabei wirklich um ein höheres akademisches Niveau oder nur um eine Rückkehr in die Schule des 19. Jahrhunderts?
Vor allem sind diese Maßnahmen in Massenstudiengängen organisatorisch und finanziell kaum durchführbar. Und selbst wenn: Chatbots und KI-Brillen machen Kolloquien zu einem Katz-und-Maus-Spiel. Spätestens mit besserer Hardware verschwinden die Täuschungsmöglichkeiten in der Unsichtbarkeit.
4. Strategische Fragestellung
Der Wert des Hochschulabschlusses im KI-Zeitalter
Die eigentliche Frage lautet daher: Wozu dient ein Hochschulabschluss künftig noch, wenn KI viele Aufgaben schneller, billiger und zuverlässiger erledigt? Das alte Versprechen von Einkommen und Status erodiert. Mit dem Abbau von sogenannten Bullshitjobs⁴ und dem globalen Kostenwettbewerb verschärft sich der Druck. Absolventen, die keine reale Praxis nachweisen können, verlieren an Marktwert.
5. Ökonomische Perspektive 2026–2030
Bildungsrendite im Wandel
Traditionell lag die private Bildungsrendite – also der Einkommensvorsprung von Akademikern gegenüber Nicht-Akademikern – in Deutschland zwischen 5 und 8 Prozent pro Jahr des Studiums.⁵ Mit wachsender Automatisierung droht diese Rendite in generischen Studiengängen⁶ deutlich zu sinken. Prognosen der OECD weisen darauf hin, dass die Rendite in diesen Fächern bis 2030 um bis zu ein Drittel zurückgehen könnte.
Arbeitsmarktprojektionen
McKinsey und ILO erwarten, dass 15 bis 25 Prozent aller Tätigkeiten in Europa bis 2030 automatisiert werden.⁷ Besonders betroffen sind Routineaufgaben in Verwaltung, Recht, Controlling und technischer Dokumentation – alles Felder, in denen bislang viele Hochschulabsolventen beschäftigt waren. Gleichzeitig entstehen neue Nachfragefelder in KI-Governance⁸, Robotik-Integration⁹, Datensicherheit¹⁰ und System-Engineering¹¹.
Kosten pro Absolvent
Berechnungen des CHE¹² und der Kanzlerkonferenz deutscher Hochschulen gehen von durchschnittlichen Ausbildungskosten von 35.000 bis 60.000 Euro pro Absolvent aus. Bei schrumpfender Bildungsrendite wird die Finanzierungsfrage für Staat und Steuerzahler dringlicher: Lohnt sich das Investment noch, wenn die KI einen erheblichen Teil der Arbeitsleistung ersetzt?
Internationale Wettbewerbsfähigkeit
Während Deutschland auf Massenuniversitäten setzt, investieren Länder wie Singapur, Südkorea und Israel gezielt in praxisintensive, technologiegetriebene Hochschulen. Dort liegt die Beschäftigungsquote von Absolventen auch in Hochautomatisierungsfeldern bei über 90 Prozent.¹³ Die Gefahr besteht, dass europäische Universitäten ins Hintertreffen geraten und ihre Absolventen in wachstumsstarken globalen Märkten nicht mehr konkurrenzfähig sind.
6. Zukunftsbild 2026–2030
Prüfungen, Curricula, neue Berufsbilder und Hochschulprofile
- Prüfungen verlagern sich von der Schriftform zur Performanz: Entscheidend wird die Fähigkeit, Ergebnisse live zu verteidigen, Fehler zu diagnostizieren und in Teams Lösungen zu entwickeln.
- Die Curricula orientieren sich am Einsatz von KI-Systemen. Studierende lernen, Sprach- und Tool-Assistenzen gezielt einzusetzen, um Szenarien zu entwerfen, Simulationen durchzuführen und Risiken zu bewerten.
- Werkstattformate gewinnen an Bedeutung. Prüfungen enthalten einen substanziellen Praxisanteil: Aufbau, Inbetriebnahme und Test komplexer Systeme, ergänzt durch Sicherheits- und Abnahmeprotokolle.
- Konformität wird Studieninhalt. Lehrpläne integrieren Module zu Governance, Transparenz und Dokumentationspflichten des EU-AI-Acts. Damit wird rechtliche und organisatorische Compliance Teil der Ausbildung.
- Neue Berufsbilder entstehen. Gefragt sind technisch-juristisch-politische Transformationsagenten, die KI und Robotik durch Normen, Mitbestimmung, Haftungsregeln und Datenschutz in Organisationen einführen.
- Die Präsenzhochschule profiliert sich. Inhalte lassen sich durch KI leichter vermitteln; Hochschulen behaupten sich über Labore, klinische und industrielle Partnerschaften, Reallabore und Datenräume.
- Didaktik wird dialogisch-adaptiv. Tutorielle Systeme übernehmen Routinen; Lehrende werden zu Regisseuren anspruchsvoller Lernsituationen, in denen Urteilskraft und praktische Umsetzung im Vordergrund stehen.
7. Konsequenz
Universitäten zwischen Tradition und Erneuerungspflicht
Universitäten in der Tradition der Scuola di Atene¹⁶ müssen sich im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz neu bewähren. Ihre Aufgabe besteht nicht in der Vervielfältigung von Texten, sondern in der Befähigung zum Strukturieren von Problemen, zum Durchdringen komplexer Systeme, zum Entwerfen tragfähiger Lösungen und zum kritischen Erkennen von Fehlern. Der Wert des Studiums gründet künftig auf der Fähigkeit, Orientierung zu geben in einer Welt, die von KI berechnet, aber nicht verantwortet wird. Gelingt dieser Wandel, behält das Studium Sinn und Gewicht. Gelingt er nicht, verkommen Prüfungen zu Ritualen und akademische Abschlüsse zu bloßen Illusionen.
Anhang
Fußnotenverzeichnis
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MOOC (Massive Open Online Course): Massenoffener Onlinekurs, seit 2011 als Bildungsrevolution gehandelt, in der Breite jedoch an Motivation und Prüfungsdesign gescheitert.
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Tichonoff-Effekt: Bezeichnung für unauffällige Täuschungsmethoden durch versteckte Audio- oder KI-gestützte Brillenhilfen. Der Begriff verweist einerseits auf Berichte über erste dokumentierte Fälle aus dem russischsprachigen Raum, in denen solche Systeme eingesetzt wurden, andererseits auf das russische Wort tichij (тихий = still), das sinnbildlich auf den „stillen Mithörer“ beziehungsweise den „kleinen Mann im Ohr“ anspielt.
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Kolloquium: Mündliches Fachgespräch oder Zwischenprüfung, zur Absicherung wissenschaftlicher Eigenleistung.
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Bullshitjob: Begriff des Anthropologen David Graeber für Tätigkeiten, die selbst von Ausübenden als sinnlos empfunden werden.
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Bildungsrendite: Schätzung auf Basis OECD Education at a Glance (2019–2023).
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Generische Studiengänge: Studienfächer mit geringen Spezialisierungs- und Praxisanteilen, deren Inhalte durch KI leicht substituiert werden können (z. B. Standard-BWL, allgemeine Sozialwissenschaften).
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Automatisierungsprognosen: McKinsey Global Institute (2023), ILO Future of Work Reports (2024).
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KI-Governance: Regulierung, Steuerung und Verantwortungsstrukturen für den Einsatz von KI-Systemen.
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Robotik-Integration: Einbettung von Robotersystemen in industrielle, medizinische oder logistische Abläufe.
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Datensicherheit: Schutz sensibler Daten vor Verlust, Manipulation oder Missbrauch im Kontext digitaler Systeme.
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System-Engineering: Interdisziplinäre Methode zur Planung, Entwicklung und Steuerung komplexer technischer Systeme.
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CHE (Centrum für Hochschulentwicklung): Deutscher Think Tank und Beratungsinstitution für Hochschulpolitik, gegründet 1994.
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Internationale Vergleichszahlen: World Economic Forum Education Benchmark (2024).
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EU-AI-Act: Europäische Verordnung zur Regulierung von KI, seit 2024 in Kraft, mit gestaffelten Übergangsfristen bis 2026.
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Transformationsagenten: Neue Schnittstellenberufe zwischen Technik, Recht und Politik, zuständig für die Implementierung von KI und Robotik.
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Scuola di Atene (Schule von Athen): Fresko von Raffael (1509–1511), Symbol für Gelehrsamkeit und universitäre Tradition.
Quellenverzeichnis
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CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) (2024): Daten & Fakten zur Hochschulentwicklung in Deutschland. Gütersloh.
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Europäische Union (2024): Regulation (EU) 2024/… on Artificial Intelligence (AI Act). Amtsblatt der Europäischen Union, Brüssel.
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Graeber, D. (2018): Bullshit Jobs. A Theory. New York: Simon & Schuster.
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International Labour Organization (ILO) (2024): The Future of Work in Europe. Geneva.
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McKinsey Global Institute (2023): Jobs lost, jobs gained: Workforce transitions in a time of automation. New York.
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OECD (2023): Education at a Glance 2023: OECD Indicators. Paris: OECD Publishing.
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OECD (2019): The Future of Education and Skills: Education 2030. Paris: OECD Publishing.
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World Economic Forum (2024): Education Benchmark Report 2024. Geneva.