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Zeitenwende - Europa am Abgrund

Molekulare Bürgerkriege

Lagebild und Handlungsaufträge zur inneren Sicherheit

Kommentar zum Interview von Moritz Eichhorn mit David Betz, Professor für „War in the Modern World“ am King’s College London, erschienen in der Berliner Zeitung am 23.08.2025


Molekulare Bürgerkriege in Europa | Dr. Wrede & Partner

„Die molekularen Bürgerkriege sind keine Revolutionen, sondern endlose Zerfallsprozesse.“ — Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993)


I. Risikozahlen und Ausgangslage


David Betz erklärte in einem Interview mit der Berliner Zeitung, die Wahrscheinlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte in Westeuropa liege nach einem von ihm angeführten Risikomodell bei rund vier Prozent pro Jahr.¹ Über fünf Jahre kumuliere sich das Risiko damit auf 18,5 Prozent – vorausgesetzt, die bekannten Risikofaktoren blieben bestehen und würden nicht wirksam eingedämmt.² Er betonte, dass es sich dabei nicht um eine Prognose handle, sondern um eine Modellrechnung auf Grundlage historischer Vergleichsdaten, die im sicherheitspolitischen Diskurs als Vorzeichen eines möglichen inneren Zerfalls verstanden werden müsse.³

Dieser Wert markiere eine Schwelle, die im strategischen Denken nicht übersehen werden darf. In der Logik der Risikoanalyse weise eine Wahrscheinlichkeit dieser Größenordnung auf eine Zone erhöhter Verwundbarkeit hin und fungiere als Indikator systemischer Störungen.

Von Gewicht sei zudem, dass mehrere in der Forschung diskutierte Faktoren zugleich wirksam seien: eine wachsende gesellschaftliche Spaltung, der Statusverlust größerer Bevölkerungsgruppen, der Erosionsprozess des Vertrauens in politische und staatliche Institutionen sowie die Schwäche der wirtschaftlichen Basis. Ihre Gleichzeitigkeit stelle keinen Normalzustand dar, sondern sei Ausdruck einer verdichteten Krise.⁴ 


II. Gesellschaftliche Fragmentierung


Die Konfliktforschung habe festgestellt, so Betz, dass die politische Kultur Europas ihre Fähigkeit zum Ausgleich zunehmend verliere. Entscheidungen orientierten sich immer weniger an Sachfragen und immer stärker an Gruppenzugehörigkeiten. Dieses Muster sei tribalistisch und unterminiere die Grundlage jeder Integration.

Ehemals prägende Mehrheiten gerieten in die Defensive. Prognosen sagten voraus, dass die indigene Bevölkerung in Teilen Europas binnen einer Generation zur Minderheit werden könnte. Dies verstärke das Gefühl der Verdrängung. Entscheidend sei die Wahrnehmung, dass dieser Wandel nicht offen gesteuert, sondern verschleiert worden sei. Solche Erfahrungen wirkten wie ein Katalysator existenzieller Verunsicherung. 

Auch Institutionen, die früher als unparteiisch gegolten hätten, verlören zunehmend ihre Autorität. Politik, Justiz und Medien genössen in vielen Ländern nur noch Restvertrauen. In der Folge schwinde das Fundament friedlicher Konfliktregelung und die Schwelle zum offenen Streit sinke.


III. Ökonomische Erosion


Die wirtschaftliche Substanz sei, so Betz, in vielen westlichen Staaten angeschlagen. Produktivitätsstagnation, hohe Verschuldung und strategische Fehlentscheidungen in der Energie- und Industriepolitik schwächten die ökonomische Basis. Die junge Generation sei schlechter gestellt als ihre Eltern, Eigentum und Vorsorge seien für breite Schichten kaum mehr erreichbar. Damit sei das westliche Versprechen des sozialen Aufstiegs gebrochen.

Aus sicherheitspolitischer Sicht sei diese Entwicklung sehr bedenklich. Wirtschaftliche Perspektiven gehörten zu den stärksten Schutzfaktoren gegen innere Unruhen. Wo Aufstieg möglich sei, sinke die Neigung zur Gewalt. Wo Chancen wegbrechen, wachse das Potenzial für Radikalisierung. 

Eskalationen verliefen selten schrittweise. Sie brächen sprunghaft hervor, wenn Spannungen über längere Zeit anwüchsen. Das Beispiel Bosnien in den neunziger Jahren verdeutliche, wie rasch eine scheinbar stabile Gesellschaft in offenen Bürgerkrieg umschlagen könne. Der sogenannte Normalitätsbias – die Vorstellung, Stabilität gelte von heute auch morgen – sei eine der gefährlichsten Täuschungen. Sicherheitspolitisches Denken müsse diese psychologische Falle vermeiden.


IV. Eskalationsszenarien in Europa


Zwei Konfliktachsen seien, so Betz, erkennbar: Die erste verlaufe zwischen nationalen Mehrheiten und postnationalen Eliten und berge das Risiko asymmetrischer Gewalt, auch gezielter Angriffe auf Führungspersonen. Die zweite betreffe das Verhältnis von Einheimischen und Neuankömmlingen und trage das Potenzial urbaner Massenunruhen. Beide Konfliktlinien könnten sich überlagern und dadurch verstärken. 

Ein innerer Konflikt bleibe nicht auf ein Land begrenzt. Bürgerkriege griffen regelmäßig auf Nachbarstaaten über. Für Europa bedeute dies: Bräche ein Konflikt in einem großen Mitgliedstaat aus, steige die Wahrscheinlichkeit massiver Ausbreitung.⁵ In einer hochgradig vernetzten Region wirke dies wie eine Kettenreaktion gesellschaftlicher Destabilisierung. Schon heute zeige sich, wie schnell digitale Bilder von Gewalt grenzüberschreitend wirkten und Unruhen beschleunigten.


V. Strategische Handlungsaufträge


Aus der beschriebenen Lage ergeben sich strategische Handlungsaufträge, die über den Kommentar hinausweisen:

  • Erstens: eine ehrliche Analyse der Risiken, keine Beschönigung. Sicherheitspolitische Vorsorge beginnt mit einer präzisen Diagnose.
  • Zweitens: die Stärkung der Institutionen durch konsequentes und wirksames Handeln, nicht durch symbolische Politik. Institutionen gewinnen Vertrauen nicht durch Worte, sondern durch Ergebnisse.
  • Drittens: die Sicherung der ökonomischen Leistungsfähigkeit als Kern innerer Stabilität. Ohne Wachstum und Perspektiven bricht das gesellschaftliche Fundament.
  • Viertens: die Steuerung der Migration im erkennbaren Interesse des Gemeinwesens. Migration muss gestaltet werden, sonst wird sie selbst zum Krisenfaktor.
  • Fünftens: der gezielte Ausbau lokaler Resilienz. Gesellschaften stabilisieren sich nicht nur von oben, sondern vor allem durch tragfähige Strukturen im Nahbereich.

Mit 18,5 Prozent in einem Fünfjahreszeitraum ist die Eintrittswahrscheinlichkeit innerstaatlicher Gewaltkonflikte in Westeuropa als gravierende Warnmarke einzustufen. Setzt man die gleiche Modellannahme fort, steigt das Risiko auf rund 33 Prozent in zehn Jahren und auf fast 56 Prozent in zwanzig Jahren.⁶ Europa bewegt sich damit in eine Zone, in der die Wahrscheinlichkeit eines inneren Konflikts mittelfristig zur Mehrheitswahrscheinlichkeit wird, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen werden. 

Sicherheitspolitisch verlangt diese Lage nicht nur erhöhte Aufmerksamkeit, sondern frühzeitige Vorsorge. Politisch dominiert Zurückhaltung. Notwendig ist jedoch ein verantwortungsvoller Umgang mit den Befunden. Die staatlichen Institutionen müssen Vertrauen zurückgewinnen, die wirtschaftliche Grundlagen müssen gesichert und die gesellschaftlichen Spannungen reduziert werden. Noch besteht die Möglichkeit, den Kurs zu ändern. Ob dies gelingt, hängt davon ab, ob in Europa der Mut zu weitsichtiger Führung aufgebracht wird und die Kraft, tragfähige Lösungen gemeinsam zu entwickeln.


Quellenverzeichnis


¹ Die jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit von rund 4 % für das Ausbrechen eines innerstaatlichen Gewaltkonflikts stammt aus den Analysen der Political Instability Task Force (PITF), einem seit den 1990er-Jahren von der US-Regierung finanzierten Forschungsprojekt, das Daten zu allen internen Konflikten weltweit seit 1955 sammelt. Untersucht wird, unter welchen politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen Bürgerkriege entstehen. Die statistischen Modelle basieren auf mehreren tausend „Länderjahren“ und nutzen logistische Regressionen, die Faktoren wie Demokratiegrad, ethnische Fragmentierung, ökonomische Lage und institutionelle Stabilität berücksichtigen. Forschungsergebnisse u. a. von Fearon & Laitin („Ethnicity, Insurgency, and Civil War“, 2003) sowie Collier & Hoeffler (Breaking the Conflict Trap, 2003) und Barbara F. Walter (How Civil Wars Start, 2022) zeigen: Während das Risiko in stabilen Demokratien nahezu null beträgt, liegt es in Staaten, die durch Anokratie, ethnisch-religiöse Polarisierung, schwaches Vertrauen in Institutionen sowie eine Wirtschaftskrise geprägt sind, bei etwa 0,04 pro Jahr (4 %).

² Zur Berechnung: Grundsätzlich besteht jedes Jahr die Möglichkeit, dass ein Bürgerkrieg ausbricht. Die Wahrscheinlichkeit liegt, so Betz,  derzeit bei 4 % pro Jahr. Anders gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass im ersten Jahr kein Konflikt ausbricht, beträgt 96 %. Daraus folgt: Damit auch in den nächsten Jahren kein solcher Konflikt eintritt, darf jedes Jahr aufs Neue kein solcher Konflikt eintreten, also Jahr 1: 96 %, Jahr 2: 96 %, Jahr 3: 96 %, Jahr 4: 96 %, und Jahr 5: 96 %. Es gilt demnach: 96 % × 96 % × 96 % × 96 % × 96 % = 0,96 × 0,96 × 0,96 × 0,96 × 0,96 = ungefähr 81,5 %. Wenn die Chance dafür, dass kein solcher Konflikt eintritt, bei 81,5 % liegt, beträgt im Umkehrschluss, dass mindestens solch ein Konflikt eintritt: 100 % − 81,5 % = 18,5 %. 

Mit anderen Worten: Grundlage ist eine angenommene jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit von p=0,04p = 0{,}04. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Jahr kein Konflikt eintritt, beträgt 1−p=0,961 - p = 0{,}96. Über fünf Jahre ergibt sich die Wahrscheinlichkeit des Nicht-Eintritts zu (0,96)5≈0,815(0{,}96)^5 \approx 0{,}815.

Das Komplement dazu – also die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb von fünf Jahren mindestens einmal zu einem Konflikt kommt – beträgt 1−0,815≈0,185=18,5%1 - 0{,}815 \approx 0{,}185 = 18,5 \%

Im Ergebnis liegt die Wahrscheinlichkeit, dass in 5 Jahren mindestens ein Konflikt eintritt, bei 18,5 %.

³ Betz, David. Interview mit Moritz Eichhorn. Berliner Zeitung, 23.08.2025.

⁴ Walter, Barbara F. How Civil Wars Start: And How to Stop Them. New York: Crown, 2022.
⁵ Betz, David. „Civil War Comes to the West, Part II: Strategic Realities.“ Military Strategy Magazine, Vol. 10, Issue 2, Frühjahr 2025.
⁶ Erweiterte Berechnung: Nach derselben Formel 1−(1−0,04)n1 - (1 - 0,04)^n ergibt sich für zehn Jahre eine Wahrscheinlichkeit von rund 33,5 Prozent und für zwanzig Jahre von rund 55,8 Prozent. Diese Werte beruhen auf der Annahme gleichbleibender Bedingungen und unabhängiger Jahresereignisse.


Literaturverzeichnis


  1. ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project. Regional Overviews of Political Violence. Washington D.C., fortlaufend.

  2. Aron, Raymond. Frieden und Krieg zwischen den Nationen. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1963.

  3. Betz, David: „The Future of War Is Civil War“, in: Social Science (Bd. 12, 2023).

  4. Chenoweth, Erica; Stephan, Maria J. Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia University Press, 2011.

  5. Clausewitz, Carl von. Vom Kriege. Hrsg. von Werner Hahlweg. Bonn: Dümmler, 19. Auflage, 1980.

  6. Collier, Paul; Hoeffler, Anke; Rohner, Dominic. Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy. Washington D.C./New York: Weltbank & Oxford University Press, 2003.

  7. Enzensberger, Hans Magnus. Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.

  8. Fearon, James D.; Laitin, David D. „Ethnicity, Insurgency, and Civil War.“ American Political Science Review, Vol. 97, No. 1 (2003), S. 75–90.

  9. Ganteför, Gerd. Are we heading for a civilwar? YouTube, 29.08.2025. Online: https://www.youtube.com/watch?v=J6f0xlHdM8g (Abruf: 30.08.2025).

  10. Gray, Colin S. Modern Strategy. Oxford: Oxford University Press, 1999.

  11. Huntington, Samuel P. Political Order in Changing Societies. New Haven: Yale University Press, 1968.

  12. Huntington, Samuel P. The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster, 1996.

  13. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH). Jahrbuch Frieden und Sicherheit 2024. Baden-Baden: Nomos, 2024.

  14. Institute for National Security Studies (INSS, Tel Aviv). Strategic Survey for Israel 2024–2025. Tel Aviv: Tel Aviv University, 2025.

  15. International Institute for Strategic Studies (IISS). The Military Balance 2025. London: Routledge, 2025.

  16. Kissinger, Henry. World Order. New York: Penguin, 2014.

  17. Meinecke, Friedrich. Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. München: Oldenbourg, 1924.

  18. Political Instability Task Force (PITF). Global Forecasts of Political Instability. Arlington VA, 2023.

  19. Punzmann, Thomas. „Britischer Oberst a.D. spricht vom drohenden Bürgerkrieg.“ Tichys Einblick, 30.08.2025. Online: https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/aus-aller-welt/uk-richard-kemp-talk-buergerkrieg (Abruf: 30.08.2025).

  20. Putnam, Robert D. Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon & Schuster, 2000.

  21. Schmitt, Carl. Der Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot, 1932.

  22. Toft, Monica Duffy. The Geography of Ethnic Violence: Identity, Interests, and the Indivisibility of Territory. Princeton: Princeton University Press, 2003.

  23. Uppsala Conflict Data Program (UCDP). UCDP Conflict Encyclopedia. Uppsala: Department of Peace and Conflict Research, laufend aktualisiert.

  24. Walter, Barbara F. How Civil Wars Start: And How to Stop Them. New York: Crown, 2022.