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Strategische Personalgewinnung in komplexen Zeiten

Diagnostik statt Lebenslauf

Warum Recruiting neu gedacht werden muss


ID37, Hogan Assessments, Tapas I Strategische Personalgewinnung | Dr. Wrede & Partner

Wer weiterhin Steckbriefe einsammelt, wird bald Museumsdirektor einer Personalabteilung sein


Psychologische Reife als Erfolgsfaktor

Was zählt, wenn Lebensläufe nicht mehr genügen


Die größte Illusion in der Personalauswahl besteht in der Annahme, die Vergangenheit eines Menschen lasse belastbare Rückschlüsse auf seine Zukunft zu.
Was jemand gelernt, geleistet oder dokumentiert hat, erlaubt heute kaum noch eine verlässliche Einschätzung darüber, wie er oder sie in einer Welt bestehen wird, die von wachsender Ungewissheit, inneren Widersprüchen und beschleunigten Veränderungszyklen geprägt ist. Lebensläufe geben Auskunft über den Weg bis hierher, doch Organisationen stehen vor der Herausforderung, Menschen zu finden, die sich im noch unbekannten Gelände orientieren können, unter Druck geistige Klarheit bewahren und in dynamischen Situationen Verantwortung übernehmen.

Diese Fähigkeit ist nicht mehr allein jenen vorbehalten, die an der Spitze von Organisationen stehen. Auch in projektbezogenen, fachlich hoch spezialisierten oder kundennahen Rollen wird zunehmend erwartet, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Ambiguität umgehen, Spannungen regulieren und sich situativ stimmig verhalten können. Fachwissen bleibt notwendig, aber es reicht nicht mehr aus, um unter den Bedingungen eines strukturell instabilen Arbeitsumfelds tragfähige Beiträge zu leisten.

Aus dieser Entwicklung ergibt sich ein erweitertes Verständnis von Eignung. Entscheidend ist nicht mehr primär die Beherrschung von Werkzeugen, Methoden oder Abläufen, sondern die psychologische Verfasstheit eines Menschen. Relevant wird, ob jemand in der Lage ist, sich selbst zu führen, Emotionen differenziert zu steuern und intellektuell beweglich auf neue Herausforderungen zu reagieren. Wer in diesem Kontext Talente auswählt, sollte nicht nach Daten der Vergangenheit fragen, sondern nach den psychologischen Zuständen, aus denen die Zukunft entsteht.

Solche Zustände lassen sich mit professionellen Mitteln diagnostisch erfassen. Drei Zugänge haben sich in der internationalen Praxis als besonders tragfähig erwiesen. Sie zeigen, mit welchen Motiven ein Mensch handelt, wie er emotionale Spannungsfelder verarbeitet und auf welche Weise er unter Unsicherheit denkt. Diese drei psychologischen Achsen bilden das strategische Fundament moderner Eignungsdiagnostik.


1 · Psychodynamische Eignungsdiagnostik


Traditionelle Persönlichkeitstests wie das OCEAN-Modell – häufig in Form standardisierter Fragebögen wie dem NEO-PI-R – liefern stabile, aber häufig oberflächliche Momentaufnahmen. Sie erfassen grundlegende Persönlichkeitsfaktoren, ohne jedoch differenziert auf individuelle Motivlagen, Wertekonflikte oder situative Spannungsmuster einzugehen. Für moderne Aufgabenprofile, die psychologische Selbststeuerung, Ambiguitätstoleranz und Rollendynamik erfordern, reichen diese Verfahren zunehmend nicht mehr aus.

Verfahren wie ID37 setzen hier an. Das in Deutschland entwickelte Instrument basiert auf der Motivationstheorie von Steven Reiss, wurde von Christoph Kemper wissenschaftlich weiterentwickelt und erfasst 37 individuelle Motivdimensionen – darunter Prinzipientreue, Einfluss, Autonomie, Zugehörigkeit oder Statussensibilität. Die Anwendung ist DIN 33430-konform, digital skalierbar und eignet sich sowohl für Individualdiagnostik als auch für teambasierte Persönlichkeitsarchitekturen. Besonders in Coaching- und Entwicklungsprozessen erlaubt ID37 eine präzise Passung zwischen Person, Aufgabe und Kontext.

Trotz dieser Stärken ist die internationale Verbreitung bislang begrenzt. Gründe dafür liegen weniger in der diagnostischen Qualität als in strukturellen Rahmenbedingungen: Das Verfahren wurde 2019 eingeführt und ist bislang primär im deutschsprachigen Raum etabliert. Die Normstichproben basieren auf mitteleuropäischen Bevölkerungsdaten, was eine unmittelbare Übertragbarkeit auf global skalierte Auswahlverfahren einschränkt. Auch das Lizenzierungs- und Trainerzertifizierungssystem ist bislang stark auf den europäischen Markt ausgerichtet. Ein Pilotprojekt mit der nordamerikanischen Basketballliga NBA zeigt zwar Potenzial, stellt jedoch bisher eine Ausnahme dar.

In den USA und vielen internationalen Organisationen gelten andere Standards: Hier dominieren Verfahren wie der MBTI, CliftonStrengths oder vor allem die Hogan Assessments, die auf der sozialanalytischen Persönlichkeitstheorie von Robert Hogan basieren. Die Hogan Personality Inventory (HPI), der Hogan Development Survey (HDS) und das Motive, Values, Preferences Inventory (MVPI) ermöglichen nicht nur die Erfassung berufsrelevanter Eigenschaften, sondern auch von sogenannten „derailers“ – also Persönlichkeitsmerkmalen, die unter Stress zu dysfunktionalem Verhalten führen können.

Diese Instrumente sind weltweit in mehr als 40 Sprachen verfügbar, juristisch validiert und in der Eignungsdiagnostik globaler Konzerne, öffentlicher Institutionen und militärischer Führungslaufbahnen verankert. Sie kombinieren breite Datenbasierung mit differenzierter Führungseignung und Risikoprofilierung – ein Grund, warum sie in international vernetzten HR-Architekturen als Standard gelten.


2 · Emotionale Meta-Kompetenzmessung


Gesucht ist nicht nur emotionale Intelligenz im klassischen Sinn, sondern die Fähigkeit, situativ zwischen Empathie, gezielter Abgrenzung (Ekpathie) und professioneller Indifferenz zu wechseln. Wer in hybriden, vielschichtigen Arbeitsumgebungen Verantwortung übernimmt, muss emotional souverän navigieren – in der Begegnung mit anderen ebenso wie im Umgang mit sich selbst.

Diese Kompetenz ist trainierbar und messbar. Der EQ-i 2.0 und multimodale Verfahren wie situative Interviews oder biofeedbackgestützte Stressprotokolle erlauben differenzierte Aussagen über emotionale Belastbarkeit, Reaktionsmuster und Selbstregulation. Bewertet wird nicht das Bedürfnis nach Harmonie, sondern die Fähigkeit, Spannungen zu erkennen, auszubalancieren und konstruktiv zu nutzen.

Eine Meta-Analyse von Doğru (2022), veröffentlicht in Frontiers in Psychology, zeigt signifikante Zusammenhänge zwischen emotionaler Intelligenz und arbeitsbezogenen Ergebnissen wie Zufriedenheit, Leistung, organisationalem Commitment und reduzierter Belastung. Die durchschnittlichen Effektstärken liegen im Bereich von g ≈ 0,46, was die Relevanz dieser Fähigkeit für moderne Arbeitswelten empirisch unterstreicht.


3 · Adaptive Kognitionsprofile


In volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeldern – den sogenannten VUCA-Szenarien – genügt es nicht mehr, starre Fähigkeitsprofile zu vergleichen. Stattdessen setzt modernes Recruiting auf dynamische, simulationsbasierte Verfahren, die reale Entscheidungssituationen abbilden und kognitive sowie emotionale Reaktionsmuster erfassen. Einen wegweisenden Ansatz bietet hier das in den Streitkräften der Vereinigten Staaten entwickelte Tailored Adaptive Personality Assessment System (TAPAS).

TAPAS ist seit 2009 Bestandteil des US-Army-Recruitings und basiert auf der adaptiven Item-Response-Theorie. Es misst bis zu 26 Persönlichkeitsmerkmale, darunter Belastbarkeit, Selbstdisziplin, Initiative, Anpassungsfähigkeit und emotionale Stabilität. Ziel ist es nicht nur, den unmittelbaren Berufserfolg vorherzusagen, sondern vor allem die Wahrscheinlichkeit langfristiger Dienstbindung und sozialer Integration unter hohem Druck realistisch einzuschätzen. Die hohe Skalierbarkeit des Verfahrens erlaubt seine Anwendung in Massenverfahren ebenso wie in spezialisierten Auswahlprozessen, etwa für komplexe technische Laufbahnen oder Führungsfunktionen im Einsatzumfeld.

Für Positionen mit besonders hohen Sicherheitsanforderungen – etwa in der zivilen Luftfahrt, der Atomenergie oder in sicherheitsrelevanten Behörden – wird TAPAS häufig durch klinisch fundierte Verfahren ergänzt. An erster Stelle steht hier das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI-2), das weltweit als Goldstandard der psychologischen Eignungsprüfung in sicherheitskritischen Bereichen gilt. Es blickt auf jahrzehntelange Evidenz in der Auswahl von Piloten, Fluglotsen, Polizeikräften und Spezialoperationseinheiten zurück und erlaubt differenzierte Aussagen über psychische Stabilität, Persönlichkeitsstruktur und potenziell risikobehaftete Dispositionen.

Diese Kombination aus adaptiver Persönlichkeitserfassung und klinischer Absicherung markiert den derzeit höchsten Standard der psychologischen Eignungsdiagnostik für komplexe, sicherheitskritische Aufgabenprofile.


Fazit – Vom Könner zum Zustandsmanager


Moderne Personalgewinnung verlässt den Pfad des statischen Fachwissensabgleichs und richtet sich auf die diagnostische Erfassung psychologischer Zustände aus. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr Titel oder Zertifikate, sondern Menschen, die in der Lage sind, innere Widersprüche zu regulieren, emotionale Souveränität unter Druck zu bewahren und intellektuelle Agilität in Echtzeit zu entfalten.

Unterschiedliche Verfahren leisten hierzu jeweils einen spezifischen Beitrag:

  • ID37 erschließt individuelle Motivstrukturen – besonders wirksam in Coaching, Teamentwicklung und Kontextpassung.

  • Hogan Assessments bieten international bewährte Instrumente zur Eignungsdiagnostik von Führungskräften, inklusive Risikoprofilierung und normierter Vergleichswerte.

  • TAPAS und das MMPI-2 sichern verlässliche Screeningprozesse in großskaligen, sicherheitskritischen oder militärischen Kontexten.

Wer diese Verfahren nicht isoliert, sondern intelligent kombiniert, schafft die Grundlage für eine strategische Personalarchitektur, die sich kontinuierlich an neue Herausforderungen anpassen kann – robust in der Gegenwart, wandlungsfähig für die Zukunft.

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Quellen


  1. World Economic Forum: Future of Jobs Report 2025, S. 28 – „39 % Skill Instability by 2030“ World Economic Forum Reports

  2. McKinsey Global Institute: A New Future of Work – Europe, 2024 – „+11 % Social & Emotional Skills“ McKinsey & Company 

  3. Asendorf, J.B. & Neyer, F. J. (2012) „Psychologie der Persönlichkeit“, Springer Verlag.
    Standardwerk im deutschsprachigen Raum, enthält fundierte Kapitel zum Big-Five-Modell inkl. BFI.

  4. Doğru, Ç. (2022). A Meta‑Analysis of the Relationships Between Emotional Intelligence and Employee Outcomes. Frontiers in Psychology, 13:611348.
  5. Hogan Assessments: Skalenbeschreibung HPI/HDS, 2025 web hoganassessments.com

  6. Hogan Assessment Systems: High-Potential Candidate Technical Manual, 2016 hoganassessments.com

  7. ID37: Produktseite „Personality Assessment“ (2025) ID37

  8. ID37-Blog: „ID37 goes USA – NBA Use Case“, 2025 ID37

  9. Meta-Analyse EI-Trainings: Training emotional competencies at the workplace, Frontiers in Psychology 2025 PMC