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Der Code kennt kein Ermessen

Der Code kennt kein Ermessen

Betrachtungen zur digitalen Vernunft – Beitrag  8



Über das Verhältnis von Regel, Ausnahme und Gerechtigkeit


Digitale Systeme funktionieren nach Regeln. Sie übersetzen Bedingungen in Logik, Entscheidungen in Abläufe, undVerhalten in Berechnungen. Was sich nicht formalisieren lässt, wird nicht verarbeitet. Was nicht passt, fällt durchs Raster. Der Vorteil: Klarheit. Der Preis: Verlust an Ermessen.

Doch gerade Ermessen ist konstitutiv für gerechtes Handeln. In der Verwaltung. In der Justiz. In der Medizin. Es ist das, was zwischen Regel und Leben vermittelt, weil der Einzelfall oft mehr ist als die Summe seiner Daten. Wer digitale Systeme ohne kritisches Korrektiv einsetzt, normiert, wo eigentlich unterschieden werden müsste.

Der Code behandelt gleiche Fälle gleich – selbst wenn sie in Wahrheit verschieden sind. Er kennt keine biografische Tiefe, keine kulturelle Vielschichtigkeit, keine sozialen Schieflagen. Er erkennt Muster, keine Geschichten. Er rechnet. Er wägt nicht.

Gerade in gesellschaftlich sensiblen Bereichen wird das zum Problem. Wenn Algorithmen über Kredite, Jobchancen, Sozialleistungen oder polizeiliche Relevanz entscheiden, verschiebt sich das Verhältnis von Person und Institution. Gerechtigkeit wird rechnerisch, aber nicht notwendig fair.

Ermessen ist kein Mangel an Objektivität. Es ist die Fähigkeit, zwischen Regel und Ausnahme sinnvoll zu unterscheiden. Diese Fähigkeit lässt sich nicht automatisieren – nur verdrängen. Und mit ihr verschwindet ein Stück menschlicher Urteilskraft aus unseren Institutionen.


Bilanz:
Der Code kennt kein Ermessen.
Er kennt Regeln – aber kein Maß.
Gerechtigkeit aber braucht mehr als Gleichheit: Sie braucht Urteil.