Freiheit vor Fürsorge
Die Steuerreform, die Deutschland braucht

I. Stillstand trotz fiskalischer Potenz
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt weiterhin über eine tragfähige wirtschaftliche Grundlage: eine wettbewerbsfähige Industrie, moderne Infrastrukturen und ein breites Reservoir qualifizierter Fachkräfte. Doch zentrale ökonomische Kennzahlen senden seit Jahren Warnsignale: Die Produktivität stagniert, die Nettoinvestitionen unterschreiten die Kapitalerhaltungsgrenze, das reale Wachstum tendiert gegen Null.
Diese Entwicklung ist nicht primär Resultat externer Schocks, sondern Ausdruck eines überdehnten Ordnungsrahmens. Hohe steuerliche Belastung, expansive Umverteilung und eine dichte Regulierungslandschaft schwächen Leistungsanreize, bremsen unternehmerische Initiative und entwerten Kapitalbildung.
Besonders betroffen ist der mittelständisch geprägte Teil der Volkswirtschaft, dessen betriebswirtschaftliche Flexibilität zunehmend durch steuerliche Lasten und bürokratische Komplexität eingeschränkt wird. Staatliche Verantwortung wird zunehmend auf private Akteure verlagert – ohne ihnen angemessene Handlungsspielräume zurückzugeben.
Zusätzlich hemmen externe Faktoren wie geopolitische Unsicherheiten, ein dysfunktionaler Energiemarkt und normativer Überbau im Klima-, Sozial- und Berichtswesen die Investitionsbereitschaft. Während viele Industriestaaten ihre Steuerpolitik deregulieren und anreizkompatibel gestalten, verharrt Deutschland im Status quo.
Seit dem 6. Mai 2025 verantwortet Bundesfinanzminister Lars Klingbeil die strategische Steuerung der Haushalts- und Finanzpolitik. Die bisher kommunizierten Leitlinien – Fortführung umfangreicher Transferprogramme, Betonung fiskalischer „Gerechtigkeit“ und die Rückkehr zu schuldenfinanzierten Sonderhaushalten – deuten nicht auf eine Bereitschaft zur strukturellen Neuausrichtung hin. Im Gegenteil: Bestehende Belastungsmuster werden verfestigt statt reformiert.
Doch eine bloße Nachsteuerung einzelner Parameter genügt nicht mehr. Erforderlich ist eine grundlegende Revision des steuerpolitischen Rahmens – im Geiste der Ordnungspolitik, wirtschaftlichen Vernunft und intergenerationalen Verantwortung.
II. Zur Entwicklung des steuerstaatlichen Ordnungsrahmens
Die gegenwärtige Struktur des deutschen Steuer- und Transfersystems ist das Ergebnis einer über ein Jahrhundert reichenden fiskalpolitischen Pfadabhängigkeit. Die wesentlichen Weichenstellungen dieser Entwicklung markieren keine konsistente ordnungspolitische Linie, sondern eine Abfolge ideologisch motivierter Systemumbrüche, in deren Zentrum die schrittweise Verdrängung individueller Leistungslogik durch kollektivistische Umverteilungsmechanismen steht.
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1891 – Einführung der progressiven Einkommensteuer / Erfurter Programm der SPD
Mit der Miquelschen Steuerreform und der gleichzeitigen programmatischen Ausrichtung der Sozialdemokratie auf eine „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ beginnt eine ideengeschichtliche Abkehr von der fiskalischen Neutralität. Die Steuer wird zum Instrument gesellschaftspolitischer Zielsetzungen. -
1919/20 – Erzbergersche Finanzreform
Die Zentralisierung der Steuerhoheit im Zuge der Weimarer Verfassungsordnung führt zur Aushöhlung föderaler Fiskalautonomie. Der Steuerstaat wird zu einem nationalstaatlich integrierten Umverteilungsapparat. -
1933–1945 – Fiskalpolitik im Nationalsozialismus
Die NS-Zeit bringt die vollständige Instrumentalisierung des Fiskalwesens für Macht-, Kriegs- und Lenkungszwecke. Marktprozesse werden systematisch unterdrückt, der Bürger ökonomisch entmündigt. Steuerliche Freiheit existiert faktisch nicht mehr. -
1957 – Einführung der Umlagerente
Mit der dynamisierten gesetzlichen Rentenversicherung wird die kapitalgedeckte Altersvorsorge ersetzt durch ein Umlageverfahren, das auf dem intertemporalen Zugriff des Staates auf Erwerbseinkommen basiert. Die Eigentumsbildung wird entwertet. -
1969–1975 – Sozialstaatliche Expansion ohne strukturelle Gegenfinanzierung
Die Leistungsausweitungen unter der sozialliberalen Koalition erfolgen ohne tragfähige Deckungskonzepte. Der Staat vergrößert seine Leistungsversprechen – und zugleich seine fiskalische Inanspruchnahme. -
1990er Jahre – Übertragung westdeutscher Sozialsysteme auf Ostdeutschland
Die sozialpolitische Integration der neuen Länder folgt dem Prinzip vollständiger Systemkopie – ungeachtet der divergierenden ökonomischen Ausgangsbedingungen. Die Folge: langfristige strukturelle Überlastung. -
2003–2005 – Agenda 2010
Reformpolitische Ambitionen werden arbeitsmarktpolitisch sichtbar, doch bleiben sie steuerlich halbherzig. Die Anreizlogik wird partiell reaktiviert, aber nicht institutionell gesichert. -
2023 – Einführung des Bürgergelds
Mit der Reform der Grundsicherung wird der Anspruchscharakter staatlicher Transferpolitik nochmals gestärkt. Arbeitsanreize werden geschwächt, individuelle Mitwirkungspflichten relativiert.
III. Zehn Handlungsfelder einer notwendigen Steuerreform
Eine zukunftsorientierte Steuerpolitik kann nicht auf kosmetische Korrekturen zurückgreifen. Erforderlich ist ein kohärentes, strukturell konsistentes Reformpaket, das fiskalische Belastung senkt, ökonomische Anreize wiederherstellt und institutionelle Stabilität sichert. Die nachfolgenden zehn Felder markieren zentrale Ansatzpunkte:
1. Einführung einer aktivierenden Negativsteuer
Das gegenwärtige Grundsicherungssystem leidet unter Anreizverzerrungen und struktureller Passivität. Statt monetärer Transfers ohne Gegenleistung bedarf es eines steuerlich integrierten
Instruments, das Erwerbstätigkeit honoriert. Die Negativsteuer koppelt Bedürftigkeit an Erwerbsobliegenheit – differenziert, pragmatisch, wachstumswirksam.
2. Umstellung auf einen linearen Einkommensteuertarif (Flat Tax)
Ein einheitlicher Steuersatz mit hohem Grundfreibetrag vereinfacht die Besteuerung, schafft klare Grenzbelastungen und befördert fiskalische Transparenz. Das progressive Tarifsystem erzeugt
marginale Belastungssprünge, die ökonomisch wie normativ problematisch sind. Die Flat Tax beseitigt diese Dysfunktionalitäten.
3. Wiederherstellung der Beitragsäquivalenz in der Sozialversicherung
Das solidarische Umlageprinzip bedarf einer funktionalen Begrenzung. Nur wenn die Relation von Beitrag und Leistung nachvollziehbar bleibt, lässt sich langfristig Legitimität sichern. Eine
Neujustierung ist Voraussetzung für Vertrauensfähigkeit und Beitragsdisziplin.
4. Förderung kapitalgedeckter Altersvorsorge
Langfristige Sicherungssysteme dürfen nicht ausschließlich auf intertemporale Umverteilung setzen. Eine schrittweise Rückverlagerung auf kapitalgedeckte Modelle stärkt Eigentum, Verantwortung und
individuelle Risikovorsorge – gerade in einer alternden Gesellschaft.
5. Stärkung föderaler Steuerautonomie
Die Konzentration fiskalischer Kompetenz auf Bundesebene unterminiert regionale Verantwortung. Länder und Kommunen sollten über eigene Steuerquellen und Erhebungsstrukturen verfügen – fiskalische
Mündigkeit verlangt fiskalische Gestaltungsspielräume.
6. Verfassungsrechtliche Ausgabendisziplin
Die politische Versuchung expansiver Haushalte bedarf verfassungsrechtlicher Schranken. Neue Ausgaben müssen an den Nachweis struktureller Gegenfinanzierung gebunden sein. Nur so lässt sich
dauerhafte Haushaltsstabilität sichern.
7. Abschaffung steuerlicher Lenkungsinstrumente
Steuern erfüllen ihren Zweck dort, wo sie öffentliche Aufgaben finanzieren – nicht, wo sie Verhalten steuern. Die zunehmende Funktionalisierung des Steuerrechts für Umwelt-, Sozial- oder
Lebensstilziele widerspricht rechtsstaatlicher Neutralität und ökonomischer Effizienz.
8. Bürokratieabbau im Rahmen europäischer Berichtspflichten
Vorgaben wie das Lieferkettengesetz oder ESG-Berichtspflichten belasten insbesondere mittelständische Strukturen. Ohne Wirkungsanalyse und Proportionalitätsprüfung darf keine neue Berichtspflicht
eingeführt werden. Die Wettbewerbsfähigkeit ist systemrelevant.
9. Vereinfachung der Steuerverwaltung und Abgabenstruktur
Die fiskalische Komplexität ist für kleine und mittlere Unternehmen zunehmend existenzbedrohend. Erforderlich ist ein entschlossener Abbau überholter Regelungen: Wegfall des
Solidaritätszuschlags, Abschaffung ineffizienter Bagatellsteuern, Digitalisierung der Prozesse.
10. Stärkung fiskalischer Demokratie auf kommunaler Ebene
Fiskalische Legitimität wächst durch Beteiligung. Die Bürger sollten systematisch in Entscheidungsprozesse zur Steuerverwendung einbezogen werden – sei es durch Haushaltsbeiräte, Bürgerentscheide
oder verbindliche Transparenzpflichten.
IV. PRIORITÄRER ABBAU SYSTEMISCH INEFFIZIENTER STEUERARTEN
Eine funktionale Steuerordnung bedarf nicht nur strukturierter Einnahmequellen, sondern auch der fortlaufenden Überprüfung auf Effizienz, Legitimität und Systemkohärenz. Zahlreiche Steuerarten und administrativ verknüpfte Instrumente erfüllen diese Kriterien nicht mehr. Ihr Fortbestand ist weder ökonomisch gerechtfertigt noch fiskalisch notwendig. Ein gezielter Abbau solcher Belastungen ist ordnungspolitisch geboten.
Steuerart / Regelung
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Bewertung |
Solidaritätszuschlag |
Ursprünglich zweckgebunden, nach Wegfall der Sonderlast unzeitgemäß; juristisch zunehmend angreifbar. |
Erbschaft- und Schenkungsteuer |
Belastet langfristige Kapitalbindung, insbesondere im Familienunternehmertum; führt zu Substanzverzehr. |
Kirchensteuer (staatliche Einziehung) |
Unvereinbar mit dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche; Verwaltungsaufwand überproportional. |
Bagatellsteuern |
Fiskalisch marginal, aber personalintensiv in Erhebung und Vollzug. |
Lohnsteuerklassen-System |
Systemisch verzerrend, behindert Erwerbsanreize bei Doppelverdienern; bürokratisch nicht mehr vermittelbar. |
Umsatzsteuervoranmeldung für Kleinstunternehmen |
Hemmt Gründungen und Übergänge in Selbstständigkeit; Verwaltungsaufwand unverhältnismäßig. |
Förderbürokratien (BAFA, KfW etc.) |
Hoher Vollzugsaufwand, geringe empirisch belegte Lenkungswirkung; häufig Mitnahmeeffekte ohne Zielgenauigkeit. |
V. Fazit: Zeit für eine fiskalische Kurskorrektur
Die deutsche Steuerpolitik steht an einer ordnungspolitischen Wegscheide. Entweder sie hält an gewachsenen Strukturen fest – mit fortgesetzter Umverteilung, steigender Komplexität und sinkender Standortqualität. Oder sie eröffnet sich dem überfälligen Neustart: einer konsistenten Reform im Zeichen von Eigenverantwortung, Leistungsorientierung und institutioneller Verlässlichkeit.
Der bisher erkennbare Kurs unter Bundesfinanzminister Lars Klingbeil – Stand Mitte 2025 – lässt keine Anzeichen für eine solche strategische Wende erkennen. Im Gegenteil: Die politische Rhetorik bleibt auf fiskalische Gerechtigkeit fixiert, während Transfermechanismen ausgebaut und schuldenfinanzierte Sonderhaushalte etabliert werden. Die Folge: Eine Stabilisierung des Status quo – auf Kosten von Investition, Innovation und Generationengerechtigkeit.
In einer offenen Volkswirtschaft ist dies ein ökonomisch riskanter Pfad. Der Verzicht auf strukturwirksame Reformen schwächt nicht nur das Wachstumspotenzial, sondern gefährdet auch die fiskalische Handlungsfähigkeit und Aufstiegsmobilität.
Gleichwohl gilt: Reformen sind möglich – sofern Einsicht und politischer Gestaltungswille zusammenfinden. Steuerpolitik ist kein Instrument zur Weltverbesserung, sondern infrastrukturelle Rahmensetzung für wirtschaftliches Handeln. Sie muss einfach, verlässlich und wachstumsorientiert sein.
Deutschland braucht keine Programme. Deutschland braucht eine Steuerreform.
Quellenverzeichnis
01. DIW: Wochenbericht 12/2024.
02. BMWK: Jahreswirtschaftsbericht 2025.
03. Lars Klingbeil: Bundestagsrede, 6. Mai 2025.
04. BMF: Haushaltsentwurf 2025.
05. Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit. München: Piper, 2004.
06. Negative Income Tax: Konzeptdarstellungen bei Friedman und in empirischen Studien.
07. IW Köln: Steuerbelastung des Mittelstands, 2024.
08. Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München: C.H. Beck, 1995.
09. Günther, R.: Die Erzbergersche Reform 1919/20, Berlin: Duncker & Humblot, 1976.
10. BMAS: Geschichte der Rentenversicherung, 2023.
11. Abelshauser, W.: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, C.H. Beck, 2004.
12. Bofinger, P.: Agenda 2010 – Bilanz und Ausblick, Wirtschaftsdienst 2006.
13. Bundesagentur für Arbeit: Wirkungsanalyse Bürgergeld, 2023.