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Die Erzbergerschen Reformen von 1919/ 20

Die Erzbergerschen Reformen

Steuerzentralismus als Basis politischer Entgrenzung



Abstract

The German fiscal reforms of 1919/20, initiated by Finance Minister Matthias Erzberger, marked a fundamental shift from a decentralized imperial tax structure to a centrally managed redistribution regime. Introduced as emergency measures, these instruments of taxation and administration enabled a permanent expansion of state authority. This essay examines how the structural centralization of fiscal power created a politically neutral infrastructure, which—despite its democratic origins—facilitated authoritarian appropriation under the Nazi regime. Drawing on insights from Milton Friedman and economic history, it argues that fiscal architecture, once centralized, allows political reorientation without legal rupture.


Fiskalischer Zentralismus als Basis für die politische Entgrenzung des Staates


Die Finanzreformen unter Matthias Erzberger in den Jahren 1919/20 markierten weit mehr als eine Reaktion auf fiskalische Notstände nach dem Ersten Weltkrieg. Sie leiteten einen strukturellen Systemwandel ein: den Übergang vom föderalen Steuerpluralismus des Kaiserreichs zu einem zentralstaatlich gelenkten Umverteilungsregime. Im Rahmen demokratisch legitimierter Gesetzgebung wurde eine fiskalische Infrastruktur geschaffen, die später autoritären Zugriff ermöglichte – ohne institutionellen Bruch.

Zentraler Bestandteil war die Einführung einer progressiven Einkommensteuer. Während im Kaiserreich Sätze zwischen 4 % und 8 % üblich waren, stieg der Spitzensatz 1919 auf 60 %¹. Parallel dazu wurde eine Körperschaftsteuer mit einem Satz von 20 %² eingeführt. Das Reichsnotopfer – eine einmalige Vermögensabgabe – sah je nach Besitzstand Sätze zwischen 10 % und 65 %³ vor. Flankierend kamen Umsatzsteuer, vereinheitlichte Erbschaftsteuer und die Reichsgewinnabgabe⁴ hinzu.

Die Umsetzung erforderte einen tiefgreifenden Umbau der Verwaltung. Das Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung vom 10. September 1919 etablierte ein zentral koordiniertes Netz aus 26 Landesfinanzämtern, rund 1 000 lokalen Ämtern und 200 Hauptzollstellen⁵. Die Steuerquote stieg bis Mitte der 1920er Jahre auf rund 15 %⁶ – nahezu eine Verdopplung gegenüber der Vorkriegszeit.

„Nothing is so permanent as a temporary government program.“
Milton Friedman⁷

Dieser Satz umreißt die Dynamik, mit der ursprünglich krisenbegründete Maßnahmen in dauerhafte Steuerungskapazitäten übergingen. Was als Ausnahme legitimiert wurde, verschob das Verhältnis von Markt und Staat grundlegend. Anspruchsrechte ersetzten Eigenverantwortung; Steuerpolitik wurde zur Trägersubstanz wohlfahrtsstaatlicher Ordnung.

Erzbergers Reformen institutionalisierten nicht nur fiskalischen Zugriff, sondern formten das Verhältnis von Bürger und Staat neu. Der Steuerpflichtige erschien fortan nicht als souveräner Leistungsträger, sondern als Objekt redistributiver Politik. Die wirtschaftliche Selbstverantwortung wurde zugunsten eines politisch definierten Gleichheitsideals zurückgedrängt.

Die nationalsozialistische Regierung übernahm diese fiskalische Architektur nahezu unverändert. Die zentralisierte Reichsfinanzverwaltung blieb bestehen. Das Reichsnotopfer wurde zum Modell für spätere Enteignungsmaßnahmen, insbesondere für die „Judenvermögensabgabe“ ab 1938.

„Eine ideologische Umnutzung eines bestehenden fiskalischen Apparats“
Christoph Buchheim⁸

Nicht der Missbrauch des Apparats begründete seine politische Brisanz, sondern seine funktionale Offenheit gegenüber Zielwechseln. Die Entkopplung der fiskalischen Infrastruktur von ihrem demokratischen Ursprung machte sie für autoritäre Herrschaft anschlussfähig – ohne dass neue Institutionen geschaffen werden mussten.

„A society that puts equality before freedom will get neither.
A society that puts freedom before equality will get a high degree of both.“

Milton Friedman⁷

 

Erzberger stellte das Gleichheitsprinzip über das Freiheitsprinzip. Das Resultat war ein steuerpolitischer Rahmen, der es dem Staat ermöglichte, tief in ökonomische Prozesse einzugreifen – unabhängig vom politischen System, das ihn nutzte.

 


Fußnoten

  1. Oestreicher, Matthias: „Das deutsche Steuersystem in der Zwischenkriegszeit“, Statistische Monatshefte BW, 04/2019, S. 10.

  2. Peffekoven, Roland: 100 Jahre Körperschaftsteuer, in: FinanzArchiv, 56 (1999), S. 590.

  3. Gesetz über die Erhebung einer einmaligen Reichsvermögensabgabe, RGBl. 1919, S. 2111.

  4. Feld, Lars P.; Ruf, Martin: „Geburtsstunde des Steuerstaats“, Wirtschaftsdienst, 100 (2020), H. 1, S. 20–21.

  5. Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung, RGBl. 1919, S. 1583.

  6. Ebd., S. 22.

  7. Friedman, Milton: Capitalism and Freedom, University of Chicago Press, 1962, S. 15.

  8. Buchheim, Christoph: Die NS-Wirtschaft. Eine Einführung, C.H. Beck, München 2006, S. 75.


Quellenverzeichnis

 

  • Buchheim, Christoph: Die NS-Wirtschaft. Eine Einführung. München: C.H. Beck, 2006.

  • Feld, Lars P.; Ruf, Martin: „Geburtsstunde des Steuerstaats“, in: Wirtschaftsdienst, 100. Jahrgang, Heft 1 (2020), S. 20–21.

  • Friedman, Milton: Kapitalismus und Freiheit. München: Olzog Verlag, 2004 (Original: Capitalism and Freedom, Chicago: University of Chicago Press, 1962).

  • Gesetz über die Erhebung einer einmaligen Reichsvermögensabgabe (Reichsnotopfer), Reichsgesetzblatt 1919, S. 2111.

  • Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung, Reichsgesetzblatt 1919, S. 1583.

  • Oestreicher, Matthias: „Das deutsche Steuersystem in der Zwischenkriegszeit“, in: Statistische Monatshefte Baden-Württemberg, Ausgabe 04/2019, S. 9–12.

  • Peffekoven, Roland: „100 Jahre Körperschaftsteuer“, in: FinanzArchiv, Bd. 56 (1999), S. 589–602.