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Wehrunterricht im 21. Jahrhundert

Wehrunterricht im 21. Jh.

Pädagogische Konsequenzen der Zeitenwende


Wehrunterricht | Dr. Wrede & Partner

Der Ernstfall als Lehrmeister

Strategische Ausgangslage und Handlungsauftrag


Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die sicherheitspolitische Lage Europas grundlegend verändert. Russland betreibt eine Politik permanenter Aufrüstung, verlängert die Wehrpflicht, verankert militärische Grundbildung im Schulwesen und strebt die Formierung einer mobilisierungsfähigen Gesellschaft an. Die freie Welt reagiert auf die Zeitenwende – angepasst an ihre jeweilige Bedrohungslage und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen - mit wachsender Ernsthaftigkeit.

Israel bereitet Jugendliche im Gadna-Programm auf Disziplin, Gefechtsdienst und Kameradenhilfe vor. Die Vereinigten Staaten qualifizieren im freiwilligen Junior ROTC jährlich Hunderttausende in Führung, Staatskunde und körperlicher Einsatzfähigkeit. Großbritannien setzt auf die Combined Cadet Forces als flächendeckendes Reservebildungssystem mit schulischer Verankerung. Frankreich integriert mit dem Service national universel Sicherheitserziehung, nationale Kohäsion und Perspektiven für militärische Laufbahnen. Finnland verbindet Wehrpflicht mit schulischer Sicherheitsbildung, Schweden strukturiert seine Verteidigungsfähigkeit nach dem NATO-Beitritt neu, Polen stärkt die Territorialverteidigung durch wehrpädagogische Programme an Schulen.

Die Ukraine wiederum demonstriert unter Kriegsbedingungen, was gesellschaftlich verankerte Wehrbereitschaft vermag: Schulische und zivile Ausbildungsangebote in Erster Hilfe, Zivilschutz, taktischem Verhalten und digitaler Lageführung sind dort integraler Bestandteil der Landesverteidigung. Die Wehrfähigkeit ist nicht delegiert, sondern vergesellschaftet.

Allen Formaten gemeinsam ist die Einsicht: Verteidigungsfähigkeit beginnt nicht im Verteidigungshaushalt, sondern in der Haltung junger Bürgerinnen und Bürger. Sie erfordert Urteilsfähigkeit, Belastbarkeit und Verantwortung – Eigenschaften, die trainiert und ausgebildet werden müssen.


Die Ausgangslage in Deutschland

Belastete Tradition und notwendiger Neubeginn


Deutschland steht vor einer doppelten Aufgabe. Strategisch erfordert die veränderte Bedrohungslage eine Stärkung sicherheitspolitischer Bildung. Historisch jedoch ist der Weg vermint. Der vormilitärische Turnunterricht des Kaiserreichs, die ideologisierte Wehrerziehung der NS-Zeit und der staatsloyale Wehrkundeunterricht der DDR bieten keine Vorbilder. Sie zeigen, wie schnell Bildung funktionalisiert und pädagogische Absichten durch politische Zielsetzungen überlagert werden können.

Gleichwohl lässt sich aus der Geschichte lernen. Ein moderner Wehr- und Resilienzunterricht darf diese Vergangenheit nicht wiederholen, muss sie aber reflektieren. Er hat freiwillig, demokratisch legitimiert und dem Geist des Grundgesetzes verpflichtet zu sein. Sein Zweck ist nicht Aufrüstung, sondern Befähigung. Junge Menschen sollen in die Lage versetzt werden, in kritischen Situationen mit Verantwortung, Urteilskraft und innerer Klarheit zu handeln.


Sicherheitspädagogische Inhalte

Zivilgesellschaftlicher Nutzen


Der internationale Vergleich zeigt, dass Wehrunterricht sich nicht als Vorstufe zum Militärdienst, sondern als Element staatsbürgerlicher Bildung und gesellschaftlicher Resilienz versteht. Die vermittelten Inhalte umfassen:

  • Erste Hilfe und medizinische Grundversorgung – Kompetenzen, die in Schule, Freizeit, Familie und Berufsalltag unmittelbar Anwendung finden.

  • Katastrophenschutz und Verhalten in Notlagen – insbesondere in Ländern mit Erdbebenrisiko, Waldbränden oder kritischer Infrastruktur erweisen sich diese Module als lebenswichtig.

  • Orientierung, Kartenkunde und digitale Lageanalyse – stärken analytisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen und technologische Grundkompetenz, etwa für Berufe im Bau-, Logistik- oder Rettungswesen.

  • Teamarbeit und Führung – Rollenwechsel zwischen Verantwortung und Gefolgschaft fördern Sozialverhalten, Konfliktfähigkeit und Selbstführung.

  • Staatsbürgerkunde und werteorientierte Bildung – fördern demokratisches Bewusstsein, Kenntnis des Gewaltmonopols und verfassungsrechtlicher Prinzipien.

  • Körperliche Fitness und Selbstdisziplin – verbessern Belastbarkeit, Stressresistenz und Gesundheitsbewusstsein.

Die USA nutzen Junior ROTC als Förderstruktur für Berufsausbildung, Studienzugang und Stipendien. Frankreich begreift den Service national universel als Instrument gesellschaftlicher Kohäsion und beruflicher Orientierung. Israel integriert Gadna in ein kohärentes nationales Resilienzprogramm. Allen Formaten ist gemeinsam: Sie setzen auf Freiwilligkeit, aber schaffen Struktur, Verbindlichkeit und Anschlussfähigkeit. 

Die Anwendungsmöglichkeiten reichen von sozialen, medizinischen und technischen Berufen bis hin zu sicherheitsrelevanten Studiengängen oder ehrenamtlichem Engagement in Zivil- und Katastrophenschutz. Wehrpädagogisch vorbereitete Jugendliche stärken langfristig auch das Rückgrat zivilgesellschaftlicher Infrastruktur.


Didaktische Umsetzung

Inhalte, Träger und pädagogische Prinzipien


Ein moderner Wehr- und Resilienzunterricht darf nicht schematisch verordnet werden. Er muss sich an Alter, Reifegrad und Schulform orientieren. Drei Grundprinzipien leiten die Umsetzung:

Altersgerechte Modularisierung – von niedrigschwelligen Formaten in unteren Klassen bis hin zu vertiefenden Projektmodulen in der Oberstufe.

Kooperative Trägerschaft – mit Polizei, THW, Feuerwehr, Sanitätsdiensten, Jugendoffizieren und Reservistenverbänden.

Praxisnähe mit pädagogischer Rückbindung – keine Gefechtssimulation, sondern vorbereitende Ausbildung für den späteren Wehrdienst und Handlungsfähigkeit im Ernstfall. 

Ein zeitgemäßes Format sollte den geordneten Formaldienst, Orientierungsübungen im Gelände, grundlegenden Felddienst sowie den sicheren Umgang mit der Waffe unter fachlicher Anleitung einschließen. Ziel ist nicht nur die Einübung physischer Belastbarkeit, sondern auch die Befähigung zu elementaren militärischen Handlungen im Rahmen staatlich legitimierter Selbstverteidigung. Disziplin, Urteilsfähigkeit und Handlungsbereitschaft sollen unter realistischen Bedingungen geübt und gefestigt werden.

Diese praktischen Elemente sind didaktisch einzubetten, rechtsstaatlich zu legitimieren und an ethischen Maßstäben zu orientieren. Ihre Durchführung sollte durch qualifiziertes Personal erfolgen. 

Ergänzend sind Kenntnisse in Erster Hilfe, Katastrophenschutz, digitaler Lagebeurteilung und sicherheitsrelevanter Staatsbildung zu vermitteln. Hinzu kommen Grundlagen psychologischer Resilienz, körperlicher Belastbarkeit und einfacher Führungsfähigkeit. Denkbar sind Projektformate, Wahlmodule und schulübergreifende Kooperationen. Entscheidend ist nicht die Verpflichtung, sondern das Angebot, freiwillig, aber verbindlich im Anspruch.


Schlussfolgerung

Wehrfähigkeit als staatsbürgerliche Pflicht


Eine resiliente Demokratie lebt von Bürgerinnen und Bürgern, die bereit und befähigt sind, im Ernstfall Verantwortung zu übernehmen. Sicherheit entsteht nicht von selbst. Sie ist das Ergebnis vorausschauender Vorbereitung und gemeinsamer Anstrengung.

Freiheit bleibt nur dort bestehen, wo ihre Voraussetzungen bekannt sind, eingeübt werden und zur Haltung reifen. Dazu gehört die Fähigkeit, in kritischen Lagen klar zu denken, entschlossen zu handeln und im Verbund mit anderen zu führen.

Ein zeitgemäßer Wehrunterricht leistet hierzu einen grundlegenden Beitrag. Er schafft kein Berufsmilitär im Klassenzimmer, sondern vermittelt Kompetenzen, die für jede demokratische Gesellschaft unverzichtbar sind. Disziplin, Lagebeurteilung, Kameradschaft und physische Belastbarkeit sind Ausdruck staatsbürgerlicher Reife und Bestandteil individueller Entwicklung.

Das Militärische steht dabei nicht im Widerspruch zur schulischen Bildung. Es erweitert sie um eine strategische Dimension, die unter den Bedingungen einer instabilen Welt an Bedeutung gewinnt. Praktische Ausbildung im Gelände, der sichere Umgang mit der Waffe, Kenntnisse im Katastrophenschutz und staatsbürgerliches Grundwissen gehören zum Werkzeugkasten einer Generation, die ihre Freiheit nicht nur beansprucht, sondern verteidigt.

Wer im Frieden bildet, bewahrt im Ernstfall die freiheitlich demokratische Grundordnung.