Das Gehirn als Gefechtsfeld
China verlagert den Krieg vom Schlachtfeld ins Bewusstsein.

Lage und Handlungsbedarf
Die Volksbefreiungsarmee Chinas (PLA) richtet ihren strategischen Fokus zunehmend auf das Innere des Menschen. Ziel ist nicht mehr allein die Kontrolle physischer Infrastrukturen oder digitaler Systeme, sondern die Beeinflussung kognitiver Prozesse, insbesondere von Wahrnehmung, Urteilsbildung und Entscheidungsfähigkeit.
Generalmajor He Fuchu, Militärwissenschaftler und stellvertretender Direktor der Akademie für Militärwissenschaften, formuliert diese Entwicklung wie folgt:
„Das Operationsfeld wird sich vom physischen Raum und dem Informationsraum in das Bewusstseinsreich ausdehnen; das menschliche Gehirn wird zu einem neuen Kampfraum“ (He Fuchu, zit. n. Kania, E. B. (2020).
Diese Aussage ist nicht metaphorisch zu verstehen. Sie markiert die Stoßrichtung einer strategischen Neuausrichtung, in der das menschliche Bewusstsein selbst zum sicherheitspolitischen Operationsfeld wird.
Das "China Brain Project"
Seit 2016 verfolgt das „China Brain Project“ die systematische Verknüpfung neurowissenschaftlicher Forschung mit sicherheits- und militärpolitischer Anwendung. Im Zentrum stehen Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCIs), die darauf abzielen, neuronale Signale direkt in technische Steuerimpulse zu übersetzen – mit dem Ziel, Reaktionszeiten zu minimieren, operative Effizienz zu steigern und technologische Dominanz zu sichern.
Parallel wird das biologische Leistungspotenzial des Menschen erforscht. In einem international beachteten Teilprojekt wurde das menschliche Gen MCPH1 in Primaten übertragen. Die Versuchstiere entwickelten ein langsamer reifendes, dafür strukturell komplexeres Gehirn sowie verbesserte kognitive Fähigkeiten. Dies deutet auf eine gezielte Erforschung kognitiver Optimierung hin – eingebettet in eine strategische, auch militärisch motivierte Perspektive (Liu, Z., Li, X., Zhang, J. et al. (2019).
Kognitive Kriegsführung
Die Volksbefreiungsarmee (PLA) erweitert das konventionelle Verständnis von Kriegsführung. Der Fokus verschiebt sich von der Dominanz physischer Räume hin zur gezielten Steuerung kognitiver Prozesse. Der Mensch wird nicht mehr primär als handelndes Subjekt, sondern zunehmend als Objekt strategischer Einflussnahme adressiert.
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung und Entscheidungsmechanismen rücken ins Zentrum operativer Überlegungen. Die individuelle und kollektive Informationsverarbeitung wird damit selbst zum sicherheitsrelevanten Angriffsziel.
Der Westen: fragmentiert und reaktiv
In westlichen Staaten bestehen durchaus Programme zur Mensch-Maschine-Interaktion, zur Abwehr digitaler Desinformation und zur Cyberverteidigung. Diese Initiativen sind jedoch zumeist sektoral fragmentiert und in ihrer Wirkung begrenzt, da eine übergreifende sicherheitspolitische Doktrin zu fehlen scheint, die geeignet wäre, den kognitiven Raum systematisch einzubeziehen.
Die Bedrohungslage ist real: Kognitive Einflussnahmen operieren im Verborgenen, wirken jedoch tiefgreifend. Sie können Urteilsbildung verzerren, Entscheidungsprozesse lähmen und Vertrauen in Institutionen untergraben. Ohne gezielten Schutz dieses besonders vulnerablen Handlungsraums droht mittel- bis langfristig ein Verlust an strategischer Souveränität.
Handlungsschwerpunkte
1. Kognition als strategischer Operationsraum:
Zur wirksamen Bewältigung kognitiver Bedrohungslagen wäre die Einrichtung eines nationalen Kompetenzzentrums für kognitive Sicherheit geboten. In einer interdisziplinären Struktur sollten dort
Expertise aus Militärwissenschaft, Psychologie, Medizin und Informationstechnik gebündelt werden. Ziel wäre die systematische Entwicklung von Lagebildern, die Etablierung adaptiver
Frühwarnmechanismen sowie die Ausarbeitung evidenzbasierter Schutzkonzepte.
2. Ausbildung und Befähigung von Führungskräften:
Kognitive Einflussnahme sollte als integraler Bestandteil in die sicherheitspolitische Aus- und Fortbildung aufgenommen werden. Durch den systematischen Einsatz von Planspielen,
simulationsgestützten Übungen und entscheidungsorientierten Trainingsformaten ließe sich die operative Handlungsfähigkeit relevanter Akteure nachhaltig stärken.
3. Rechtliche und ethische Orientierung:
Zur Regulierung neuartiger Bedrohungspotenziale bedarf es international konsensfähiger Leitlinien, die den Einsatz neurotechnologischer Waffensysteme begrenzen, dual-use-fähige Forschung
kontrollieren und den Schutz neuronaler Daten im Sinne digitaler Selbstbestimmung gewährleisten.
4. Stärkung gesellschaftlicher Resilienz:
Die Förderung von Medienkompetenz sowie die frühzeitige Aufklärung über algorithmisch beeinflusste Wahrnehmungsprozesse und digitale Einflussnahmen sollten systematisch in allgemeine Bildungs-
und Berufsbildungsprogramme integriert werden, um die gesamtgesellschaftliche Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.
5. Strategische Kommunikationsfähigkeit:
Sicherheitspolitische Kommunikation darf sich nicht auf reaktive Maßnahmen gegen Desinformation beschränken. Erforderlich ist die proaktive Entwicklung kohärenter Narrative, die staatliche Werte,
sicherheitspolitische Absichten und Prinzipien glaubwürdig und strategisch vermitteln.
Fazit
Der kognitive Raum hat sich zu einem sicherheitspolitisch relevanten Operationsfeld entwickelt. Staaten wie die Volksrepublik China agieren entlang dieser Dimension mit strategischer Zielklarheit, technologischer Entschlossenheit und langfristiger Planung.
Für Staaten, die ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit erhalten wollen, wird der Schutz dieses Raums zur zentralen Aufgabe. Kognitive Sicherheit ist keine abstrakte Zukunftsfrage, sondern eine gegenwartsbezogene Führungsverantwortung – mit unmittelbarer strategischer Relevanz.
Quellen
- Kania, E. B. (2020). The PLA’s Pursuit of Advanced Biotechnology: CRISPR, the Brain, and Cognitive Warfare. Center for a New American Security (CNAS), s. https://ndupress.ndu.edu/Portals/68/Documents/prism/prism_8-3/prism_8-3_Kania_82-101.pdf)
- Liu, Z., Li, X., Zhang, J. et al. (2019): Transgenic rhesus monkeys carrying the human MCPH1 gene copy show human-like neoteny of brain development. National Science Review, 6(3), 480–493, s. https://doi.org/10.1093/nsr/nwz043)