Gedanken zur Wehrpflicht
Ein Plädoyer für Haltung, Pflicht und Gemeinsinn

I. Der Ernstfall bildet den Charakter.
Wer führen soll, muss dienen können.
In der Krise bewähren sich geformte Persönlichkeiten. Lebensläufe geben Auskunft über die Vergangenheit, aber sie garantieren keine Eignung für eine Zukunft voller Unsicherheit, innerer Widersprüche und beschleunigter Veränderung. In dynamischen Lagen zählen keine Zertifikate, es zählt der Charakter. Es braucht Menschen, die unter Druck denken, führen, entscheiden und Verantwortung übernehmen können. Diese Eigenschaften sind nicht delegierbar. Sie müssen ausgebildet werden.
Der Dienst in den Streitkräften bietet dazu ein einzigartiges Lernfeld. Er verlangt Selbstbeherrschung, Urteilskraft, Disziplin und soziale Anschlussfähigkeit. Moderne Eignungsdiagnostik misst diese Fähigkeiten über Instrumente wie TAPAS, Hogan, MMPI-2 oder ID37. Doch keine Simulation ersetzt die Realität. Kein Test ersetzt das Verhalten im Ernstfall.
Der Wehrdienst ist insofern keine Assessmentübung. Er ist ein Wirkraum. Wer dient, erfährt Verantwortung, Belastung, Kameradschaft und Selbstüberwindung – nicht als Theorie, sondern im geordneten Ernst.
II. Soldatengesetz und Innere Führung
die Architektur militärischer Verantwortung
Das Soldatengesetz bringt die moralischen Anforderungen an den Soldaten präzise auf den Punkt. Paragraf 7 verlangt Tapferkeit. Paragraf 11 fordert Gehorsam. Paragraf 12 verpflichtet zur Kameradschaft. Drei Begriffe - drei Verpflichtungen. Wer sie annimmt, bewegt sich nicht im Raum technischer Verfahren, sondern im Feld des kategorischen Imperativs.
Der Soldat dient keiner Führungsperson, sondern dem Grundgesetz. Seine Loyalität ist nicht emotional gebunden, sondern rational legitimiert.
Mit der Gründung der Bundeswehr entstand eine Armee in demokratischer Verantwortung. Die Idee der „Inneren Führung“, entwickelt von Generalmajor Wolf Graf von Baudissin, verankerte den Soldaten als Staatsbürger in Uniform. Er soll nicht gehorchen, weil er muss, sondern weil er versteht. Der Dienst an der Waffe wird so zur Schule der Haltung – nicht zur Machtausübung, sondern zur Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
III. Maß, Bildung und Pflicht
Das moralische Fundament des Staates
Diese Haltung hat eine tiefere Geschichte. Nach der Niederlage von 1806 reformierten Scharnhorst, Gneisenau, Boyen, Clausewitz und vom Stein das preußische Heer und den preußischen Staat – nicht durch Technokratie, sondern durch innere Erneuerung.
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Scharnhorst forderte: „Man bilde den Offizier, bevor man ihm Verantwortung überträgt.“
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Gneisenau führte durch Haltung, nicht durch Pose.
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Boyen sah in der Wehrpflicht ein Mittel staatsbürgerlicher Erziehung.
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Clausewitz stellte den denkenden Soldaten über den bloß gehorchenden.
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Vom Stein verankerte die Verwaltung im Prinzip des dienenden Amtes.
Was sie gemeinsam schufen, war keine Republik, aber eine neue Form geistig-moralischer Verantwortung innerhalb der Monarchie. Sie begriffen Führung als Aufgabe des Geistes und der Pflicht – nicht der Herkunft. Dieses Erbe wirkt fort. Nicht als Idealbild, sondern als Maßstab für jeden, der Verantwortung trägt.
IV. Internationale Beispiele
Die Wehrpflicht als demokratische Schule
Die Wehrpflicht ist kein deutscher Sonderweg. Sie wird international als funktionales Instrument republikanischer Kohäsion verstanden.
- Finnland, Norwegen, Estland und die Schweiz kombinieren die Wehrpflicht mit breiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Der Dienst gilt dort nicht als Zwang, sondern als staatsbürgerliche Reifungsphase.
- Frankreich führte mit dem Service National Universel ein Format ein, das auf nationale Kohäsion und Verantwortungsbereitschaft zielt.
- USA: Auch ohne allgemeine Wehrpflicht betonen Strategen wie Robert Kagan oder Eliot Cohen, dass Demokratien nur überleben, wenn die Bürger bereit sind, mehr zu leisten als ihre Eigeninteressen. General Stanley McChrystal forderte öffentlich einen National Service, um der sozialen Desintegration entgegenzuwirken.
Die internationale Lage zeigt: Eine positive Beziehung zur Wehrpflicht erzeugt Resilienz. Dienst erzeugt Bindung. Ohne Bürgerpflicht gibt es keine tragfähige Republik.
V. Vom Ich zum Wir
Persönlichkeitsbildung durch Wehrpflicht
Struktur schafft Reife
Der Dienst gibt jungen Männern einen festen Rahmen. Wer sich darin bewährt, entwickelt Urteilskraft und Standfestigkeit.
Kameradschaft verpflichtet zur Verantwortung
Kameradschaft ist kein Gefühl, sondern ein Beziehungsverhalten im Grenzbereich. Sie bildet Vertrauen, das nicht auf Sympathie, sondern auf Pflichtgefühl grüdndet.
Soziale Mischung erweitert den Horizont
Der Wehrdienst bringt Milieus zusammen, die sich im Zivilen oft nicht begegnen. Das Ergebnis ist eine Integration durch gemeinsame Herausforderung.
Tugenden unter realer Belastung
Selbstbeherrschung, Mut, Verantwortungsbewusstsein – Tugenden, die nicht trainiert, sondern abgerufen werden. Der Dienst konfrontiert, er simuliert nicht. In diesem Ernsthaftcharakter liegt seine
bildende Kraft.
VI. Schussfolgerungen
Staatsbürgerliche Verantwortung
Die Wehrpflicht ist keine rückwärtsgewandte Idee. Sie ist ein demokratisches Angebot an eine Gesellschaft, die Bindung, Haltung und Reifung wieder ins Zentrum ihrer Selbstbeschreibung rücken muss. Sie stärkt nicht nur die Streitkräfte. Sie stärkt das Gemeinwesen. Wer einmal gedient hat, weiß, was es heißt, gebraucht zu werden – nicht zum eigenen Vorteil, sondern im Dienst an der Gemeinschaft.
Deutschland braucht nicht nur eine Aufstockung der Truppe. Es braucht Bürger mit Haltung.