Die Qualifizierung des Primitiven
Ein Fallbeispiel für die operative Umsetzung der russischen Logik von Schuld, Strafe und Funktionalisierung

Prigoschins Ende – Wendepunkt russischer Kriegsführung
Der Tod Jewgeni Prigoschins markierte nicht nur das Ende eines einzelnen Akteurs, sondern signalisierte eine tiefgreifende Verschiebung innerhalb der militärisch-strategischen Kultur der Russischen Föderation. Die Gruppe Wagner war mehr als eine private militärische Formation. Sie wurde zum operativen Modell, das – trotz seiner informellen Herkunft – zentrale Elemente erfolgreicher Kriegsführung im russischen Verständnis neu definierte. Entscheidende Schlagkraft wurde nicht aus institutioneller Disziplin gewonnen, sondern aus der gezielten Qualifizierung vormals marginalisierter Elemente. Dieses kulturell tief verankerte Paradox verlangt nach Analyse.
Vom Rande des Systems zur Schlüsselfigur
Jewgeni Prigoschin, Jahrgang 1961, stammte aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Nach kriminellen Jugendjahren und einer langjährigen Haftstrafe gelang ihm nach der Jahrtausendwende der wirtschaftliche und politische Aufstieg. Als Gastronom gewann er Vertrauen im Umfeld Wladimir Putins. Dieser persönliche Zugang ebnete seinen späteren Aufstieg als Betreiber der Gruppe Wagner. Prigoschin war kein klassischer Offizier, kein ausgebildeter Militär. Er war ein Produkt russischer Grenzbereiche – wirtschaftlich wie moralisch. Doch sein Gespür für operative Notwendigkeit und seine Bereitschaft zur radikalen Führung machten ihn einflussreich.
Die operative Logik der Gruppe Wagner
In der Schlacht um Bachmut erwies sich die Gruppe Wagner als ausschlaggebender taktischer Faktor. Ihre interne Organisation wich deutlich vom Aufbau regulärer russischer Streitkräfte ab: flache Hierarchien, dezentrale Kommandostrukturen, operative Autonomie und hohe Anpassungsfähigkeit unter Gefechtsbedingungen. Disziplin wurde nicht durch Vorschriften gesichert, sondern durch unmittelbare Sanktion – Belohnung wie Bestrafung folgten funktionaler Logik.
Viele ihrer Kämpfer stammten aus dem Strafvollzug. Ihre „pädagogische“ Prägung war nicht von humanistischen Leitbildern bestimmt, sondern geformt durch ein Umfeld, das auf Härte, Gehorsam und Überlebenswille setzte. Diese Sozialisation wurde nicht ignoriert, sondern bewusst aufgenommen, weiterqualifiziert und für den Einsatz nutzbar gemacht.
Die „Universität der Straflager“ wurde zur Kaderschmiede einer militärischen Formation, deren Effizienz auf der kompromisslosen Verwertung sozialer Peripherie beruhte: Wer Regeln überschreitet, wird exemplarisch sanktioniert – wer sich bewährt, steigt auf. Das Prinzip von Übertretung und Strafe war nicht Störung, sondern konstitutives Element militärischer Führung.
Das Ergebnis war keine militärische Formation im klassischen Sinn, sondern eine einsatzfähige Kampfgruppe, deren Stärke aus der Verbindung von informeller Autorität, operativer Härte und taktischer Flexibilität resultierte. Die soziale Herkunft wurde nicht überwunden – sie wurde operationalisiert.
Übertretung und Strafe: Der Fall Prigoschin
Nach dem operativen Erfolg in Bachmut forderte Jewgeni Prigoschin eine Reorganisation der russischen Streitkräfte nach dem Modell der Gruppe Wagner. Er entzog sich der Befehlskette, verweigerte die Unterstellung unter das Verteidigungsministerium.
Der „Marsch auf Moskau“ im Juni 2023 war mehr als eine bewaffnete Rebellion – im russischen Deutungshorizont geriet er zur Usurpation – einem Bruch mit der kulturellen Logik, die Macht mit Gehorsam, Loyalität mit Aufstieg und Übertretung mit Strafe verknüpft.
Die dahinterliegende Logik folgt einem kulturellen Gesetz, das seine schärfste literarische Formulierung in Dostojewskis Werk „Преступление и наказание“ (Schuld und Sühne; wörtlich: Übertretung und Strafe) findet: Nicht die Rechtsordnung entscheidet über Schuld, sondern das kulturell verinnerlichte Gefühl für Ordnung, Gehorsam und Grenzüberschreitung. Die Übertretung stellt das Machtgefüge infrage – die Strafe, oder präziser: die Sühne, stellt es demonstrativ wieder her.
Prigoschin scheiterte an der inneren Logik des Systems, das er selbst in der Gruppe Wagner perfektioniert hatte. Deren Organisationsprinzip beruhte auf der kompromisslosen Durchsetzung von Disziplin durch Strafe – ein Prinzip, das im „Gesetz der Straflager“ zur operativen Norm wurde. Wer sich bewährt, steigt auf. Wer das System infrage stellt, wird entfernt. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Gruppe Wagner, sondern – wie der Fall zeigt – für das gesamte russische Machtgefüge.
Die Wagner-Methode als Modell für die Zukunft
Die Wirkung der Gruppe Wagner reicht damit über ihren formalen Bestand hinaus. Andere Formationen – etwa in Tschetschenien – orientieren sich am Modell. Auch reguläre Kräfte adaptieren Elemente: flexible Kommandostrukturen, unmittelbare Erfolgskopplung, psychologische Robustheit.
Dies weist auf einen strategischen Umbau hin. Russland professionalisiert sich nicht im westlichen Sinn, sondern durch die Assimilation effektiver, informeller Strukturen. Die Streitkräfte der Zukunft könnten dezentraler, entschlossener, aber auch unberechenbarer operieren.
Strategische Lehren für westliche Verteidigungspolitik
Die Gruppe Wagner zeigt: Militärische Schlagkraft kann auch jenseits rechtsstaatlicher und normativer Grundlagen entstehen. Sie ist kein Modell für demokratische Armeen, wohl aber ein Indikator für operative Anpassungsfähigkeit unter autoritären Vorzeichen.
Für westliche Staaten ergibt sich daraus eine strategische Lehre: Verteidigungsfähigkeit beginnt nicht bei Strukturreformen oder Ausrüstung, sondern beim Verständnis gegnerischer Führungslogik. Prigoschins Aufstieg und Fall markieren die Rückkehr eines autoritären Ethos, das sich archaischer Ordnungsmuster bedient – Härte statt Rechtsbindung, Bewährung statt Partizipation, Loyalität als Leistungskriterium.
Russlands Streitkräfte verändern sich nicht durch Demokratisierung, sondern durch die systematische Mobilisierung vormoderner Disziplinierungsformen – ausgerichtet auf Gehorsam, Durchhaltefähigkeit und operative Härte.
Strategisches Fazit
Die sicherheitspolitische Relevanz der Gruppe Wagner liegt nicht allein in ihrer militärischen Leistung, sondern in der Art ihrer strukturellen und kulturellen Verankerung: Sie demonstriert, wie aus normfernen Milieus eine kampfstarke Formation entsteht – durch Selektion, Disziplin und operative Zielgerichtetheit.
Was daraus folgt: Russland entwickelt militärische Handlungsfähigkeit nicht entlang rechtsstaatlicher Prinzipien, sondern entlang funktionaler Effizienz. Die „Qualifizierung des Primitiven“ ist kein Unfall, sondern Methode. Der kulturelle Resonanzraum reicht von Dostojewskis „Übertretung und Strafe“ bis zur systemischen Mobilisierung von Gewaltsozialisation.
Für westliche Demokratien bedeutet das: Strategische Wehrhaftigkeit erfordert mehr als Technologie. Sie verlangt geistige Klarheit, moralische Robustheit – und die Fähigkeit, asymmetrische Ordnungsmuster analytisch zu durchdringen. Wer Führung behaupten will, muss auch im Denken verteidigungsfähig sein.